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Sometimes I lie – Manchmal lüge ich

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„It‘s a good day to read!“, habe ich erst unlängst gelesen und bei diesen Worten gleich mal nur zustimmend nicken können. Es gibt wohl fast keinen Tag, der sich nicht dazu eignet, die Nase in ein spannendes Buch zu stecken – das kann an kalten Wintertagen vor dem heimeligen Ofen und bei einem warmen Tee sein, das kann an einem herrlichen Sommertag im grünen Gras sein, das kann an trüben und nebligen Tagen in einer kuscheligen Decke sein. Die Bücher schaffen es sowieso, uns in andere Zeiten, andere Länder, andere Welten zu entführen und den Alltag auszuschließen.

Dennoch greife ich trotzdem immer mal wieder gerne in Abhängigkeit von der Jahreszeit, dem aktuellen Wetter oder auch der Gemütsverfassung zu einer bestimmten Lektüre, zu einem bestimmten Genre. Im Sommer sind das gerne eher „leichtere“ und lockere Geschichten, in der trüben Jahreszeit auch mal etwas Tiefsinniges oder seit Kurzem auch Thriller. Dies ist ein Genre, zu dem ich lange Zeit mit Gedanken wie „Zu gruselig“, „Zu Unheimlich“, „Zu Brutal“, „Zu nervenaufreibend“ überhaupt nicht gegriffen habe. Erst durch ein Geschenk bin ich dann als Spätzünder auch auf den Geschmack gekommen.

So haben sich nun also in der Folge auch immer mal wieder Thrillers auf meine Leseliste geschlichen. Obwohl wir zwar jetzt schon in der wärmeren Jahreszeit sind – der Mai hat das heuer dennoch irgendwie verschlafen und uns noch mal schnell einen Regenschauer nach dem anderen und absolut nicht maitaugliche Temperaturen beschert –, habe ich zu einem Psychothriller gegriffen. Das Werk „Sometimes I lie“ oder in der deutschen Sprache „Manchmal lüge ich“ stammt von der britischen Schriftstellerin Alice Feeney.

 

Die Handlung

Das Buch empfängt uns gleich mit drei wesentlichen Sätzen:
1. I‘m in a coma.
2. My husband doesn‘t love me any more.
3. Sometimes I lie.

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Amber liegt nach einem Unfall im Krankenhaus im Koma – sie kann in ihrem Zwischenzustand die Mitmenschen hören, aber sie kann sich nicht bewegen und daher auch die Augen nicht öffnen, nicht sprechen oder irgendwelche Zeichen zur Kommunikation geben. Doch es stellen sich ihr bei Erlangen dieses Bewusstseins natürlich gleich eine Menge Fragen: Was ist mit ihr passiert? Wer ist schuld an dem Unfall? Ist sie hier überhaupt sicher?

Vor allem der dritte Satz regt schließlich auch uns während der gesamten Geschichte zu Überlegungen, zu Vermutungen und Spekulationen an – wir wissen, dass unsere Hauptprotagonistin manchmal lügt, trotzdem ist sie unsere vorrangige Informationsquelle, die uns durch die Handlung führt, die uns an ihren Erinnerungen, an den Gesprächen der Menschen um sie, an ihren Gefühlen teilhaben lässt. Doch welche Aussage stimmt? Wo handelt es sich um eine Lüge oder eine verschwiegene Wahrheit? Wem ist zu glauben, welchen Worten ist zu vertrauen?
So gibt es gleich einmal in Bezug auf ihren Gatten die unterschiedlichen Ansätze: Von Amber kommt zu Beginn die Aussage „Mein Gatte liebt mich nicht mehr“ und er steht dann auch auf der Verdachtsliste der Polizei. Doch stimmt diese wirklich oder hat sich Amber hier in ihren Gedanken und verwirrten Überlegungen verrannt? Welche Beziehung besteht zwischen ihm und ihrer Schwester?

Es stellt sich auch immer mal wieder die Frage, ob Amber vielleicht von ihren Lügen überzeugt ist und sich quasi damit auch selbst belügt? Ist ihr eigentlich wirklich immer bewusst, wann sie eine Lüge von sich gibt? Was stimmt und welchen Aussagen von ihr dürfen wir keinen Glauben schenken? Sind ihr manche Geschehnisse vielleicht auch nicht richtig in Erinnerung?

My parents are dead. I don‘t know how you forget a thing like that, but I did. They were here in my hospital room, as real as anyone else, and yet they weren‘t here at all. They can‘t have been; they‘ve been gone for over a year ago.

 

Der Aufbau

Das Buch verläuft in verschiedenen Zeitebenen, die abwechselnd bespielt werden und dadurch entweder Rückblicke auf vergangene Ereignisse oder eben aktuelle Geschehnisse darstellen.

NOW
In diesen Kapiteln kämpft Amber darum, sich an die Geschehnisse der letzten Zeit und an ihren Unfall zu erinnern – dabei versucht sie, aus den Gesprächen der Menschen um sie, den Ärzten, dem Gatten, der Schwester Informationen dazu herauszufiltern und diese entsprechend zu ordnen. Sie liegt hilflos in ihrem Bett und ist den Mitmenschen, die jedoch nicht wissen, dass sie sehr wohl alles mithören kann, in ihrem Komazustand ausgeliefert. Dabei weiß sie nicht, wem sie vertrauen kann, ob sie ihrem eigenen Gefühl vertrauen kann oder ob ihr die Erinnerung eventuell auch mal einen Streich spielt.

THEN

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Hier blicken wir auf die letzte Woche vor dem Unfall zurück und Amber erzählt uns, was sich in diesen Tagen vor dem Weihnachtsfest in ihrem Leben zugetragen hat und welche Ereignisse sich in ihrem Beruf, in ihrer Ehe, in der Familie, in ihrem Alltag abgespielt haben. Dabei dürfen wir auch ihre Zweifel, ihre Ängste und Gefühle miterleben – schließlich wird damit nach und nach die Handlung auf die Ursache ihres Unfalls hingeleitet und es kommen auch einige Geheimnisse zutage.

Something is wrong.
I‘m sure of it now.
I‘m not imaging it.
I stand perfectly still and listen for the smallest sound. Nothing. I creep along the landing, peering around doorways, scared of what I might see.

BEFORE
Dieser Zeitabschnitt spielt fast fünfundzwanzig Jahre in der Vergangenheit und es wird anhand von Tagebucheinträgen von der Kindheit, der Schulzeit, von den Eltern, Großeltern und Freunden berichtet. Darin wird aber auch die Fixierung auf die „eine“ Freundin ersichtlich, die zwar vor allem geschützt und gegen alle verteidigt, aber daneben auch total besitzergreifend und exklusiv vereinnahmt wird.

 

Der Ablauf

Durch die gesamte Handlung und somit auch durch die verschiedenen Zeitabschnitte zieht sich immer wieder diese Aufzählung an drei Punkten, die wir bereits beim Einstieg in das Buch vorgefunden haben.

So wird die Kindheitsfreundin Taylor im Tagebuch beschrieben:
1. She‘s actually quite funny.
2. She likes books as much as I do.
3. She has exactly the same birthday as me.

So nach und nach klären sich viele Dinge, wir können aus den verschiedenen Zeitabschnitte immer wieder die Puzzleteile zusammenfügen. Trotzdem führen die zusätzlichen Informationen, die wir in den einzelnen Kapiteln erhalten, immer wieder mal auch zu zusätzlichen Fragen und neuen Überlegungen: welche Rolle spielt Ambers Ex-Freund Edward in dieser Geschichte? Was hat es mit der ominösen Freundin Jo auf sich und wer genau ist nun diese Kindheitsfreundin Taylor aus dem Tagebuch?

I can suddenly remember all of it. Even the parts I wish I couldn‘t.
I remember Edward in my room.
I remember what he did to me.
I don‘t understand how they know.

 

Schließlich fühlen wir uns auf der Zielgeraden – Amber ist aus dem Koma erwacht und kann wieder selbst aktiv am Leben teilnehmen – doch kurz vor dem tatsächlichen Buchende werden unsere Vermutungen und Erwartungen nochmals durcheinandergewirbelt und eine weitere Wende hält die Spannung bis zum Schluss. Dieses Buchende hält dann wieder einen „Dreisatz“ für uns bereit – ja, wir haben das Buch mit einem Dreisatz begonnen, sind im Verlauf der Geschichte immer wieder auf diesen gestoßen und spannen damit auch den Bogen zum Ende. Doch diese letzten drei Sätze sind nicht nur der Abschluss der Handlung, sondern sie bieten gleichzeitig jede Menge weitere Spekulationsmöglichkeiten.

Obwohl es sich hier um einen Thriller handelt und auch Tote in der Handlung vorkommen, gibt es kein dramatisches Blutvergießen oder brutale Szenen – außer einer einzigen, die es meines Erachtens für die Spannung auch nicht in dieser Ausführlichkeit bedurft hätte.

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Koma und Vollmacht

Neben der eigentlichen Handlung in diesem Psychothriller hat sich aber auch immer ein weiterer Gedanke bei mir eingeschlichen, der mich einfach nicht loslassen wollte: Es kann wohl jedem passieren, dass er aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit im Koma liegt. Wie mag dieser Komazustand für uns sein? Bekommen wir da wirklich nichts mit oder fühlen wir uns da auch so ausgeliefert und hilflos wie Amber in der Geschichte?

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Die meisten kennen wohl diese Alpträume, in denen wir vor einer Gefahr weglaufen wollen oder wo wir in die Tiefe stürzen und uns festhalten wollen oder wo wir ein nahendes Unheil abwenden wollen. Doch wir können uns in dieser Situation nicht bewegen, unsere Hände und Füße, unsere Stimme, ja unser gesamter Körper funktioniert nicht in der gewohnten Weise, sondern wir fühlen uns regelrecht gelähmt und handlungsunfähig. Daher können wir uns nur fallen lassen, das Schicksal auf uns zukommen lassen und uns ihm einfach ergeben. Welche Wohltat ist dann doch, wenn wir aus diesem Traum aufwachen, wir sind vielleicht noch etwas aufgewühlt oder unruhig, aber auf jeden Fall auch sehr erleichtert, dass es im Endeffekt nur ein Traum und nicht die Realität gewesen ist. Trotzdem könnte es eventuell ein vergleichbares Gefühl sein, wenn wir uns tatsächlich im Koma befinden.

Komapatienten werden ja auch wie andere Patienten behandelt, was in diesen Fällen meist bedeutet, dass dieser Patient ebenfalls vom Pflegepersonal oder den Ärzten mit dem Namen begrüßt und während der Behandlung mit ihm gesprochen wird, dass er ein möglichst gewohntes Umfeld erhält wie etwa das Vorspielen einer beliebten Fernsehsendung oder eines Films und das Anhören von seinen Lieblingssongs.

Was aber Wachkomapatienten wirklich erleben, wie sie ihren Zustand tatsächlich wahrnehmen, ob und welchen Einfluss die Umgebung auf sie hat, ist noch nicht endgültig erforscht und es gibt dazu immer wieder neue Erkenntnisse und weitere Untersuchungen. Daher ist es mir auch ein Anliegen, bereits jetzt im gesunden Zustand zu festzulegen, wie bei mir in einem solchen Fall vorzugehen ist, und meinen Lieben eine gegebenenfalls notwendige Entscheidung abzunehmen – ich habe diesbezüglich auch schon vor längerer Zeit beim Notar die entsprechenden Vollmachten hinterlegt, um dies vorsorglich entsprechend zu regeln.

 

Damit bist auch du schon am Zug und ich freue mich, wenn du jetzt in die Tasten klopfst und mir deine Gedanken mitteilst: Wie stehst du zu einem Psychothriller – zählt er zu deinem Lieblingsgenres, darf es hin und wieder einer sein oder kannst du mit dieser Art von Lektüre überhaupt nichts anfangen?