Books, Lifestyle

Let‘s read – Befreit durch Bildung

Die letzten Wochen oder Monate waren von verschiedenen Einschränkungen geprägt, aber als notorische Leserin habe ich dennoch nicht auf eine meiner Lieblingsbeschäftigungen verzichten müssen – Lesen ist eine der wunderbaren Möglichkeiten, die auch trotz der Restriktionen immer ausgeführt werden kann. Ja, und heute schickt die Sonne bereits am frühen Morgen ihre wärmenden Strahlen durch das Fenster und weckt gleich mal tolle Verheißungen, das Thermometer bereitet sich auf eine kleine Klettertour vor – ich vermute oder besser gesagt, ich hoffe, dass die 20-Grad-Marke dabei merklich überschritten wird und wir einen ganz tollen Vorsommertag erleben dürfen.

Also, für eine perfekte Stimmung ist an diesem Tag schon mal gesorgt und da bieten sich dazu doch einfach regelrecht ein paar gemütliche Lesestunden an. Und was ist zu einem kleinen Gedankenerlebnis notwendig? – Natürlich, wir brauchen ein interessantes Buch, eine spannende Lektüre. Ich lese mich ja gerne quer durch die Bücherwelt und bin mit wenigen Ausnahmen für alle Genres offen. Sicherlich gibt es dabei auch innerhalb der einzelnen Themenbereiche Bücher, die mich mehr ansprechen, andere werden halt gelesen und andere sind eher nicht oder auch überhaupt nicht mein Fall. So widmen wir uns heute einem Buch, das den Platz 1 in der New York Times Bestsellerliste innehatte – bei so besonders gehypten Produkten, egal ob sich um Bücher oder andere Artikel handelt, bin ich von vorneherein gleich mal etwas skeptisch – hält es wirklich, was es verspricht? Ach ja, wir befinden uns hierbei auch unter prominenter Leserschaft wie Michelle Obama und Bill Gates. Na, dann lassen wir uns mal überraschen und jetzt aber los und rein in die Geschichte!

 

Warum geht es?

Im Buch „Educated“ oder in der deutschen Übersetzung „Befreit“ erleben und erfahren wir die Lebensgeschichte von Tara Westover – sie wurde am 27. September 1986 in Idaho geboren. Ja genau, es handelt sich hier um die Biografie einer noch sehr jungen Frau, aber trotzdem hat sie uns Einiges zu erzählen, wenn wir uns auf ihre bewegenden, aber auch schockierenden Schilderungen einlassen. Ich bin ja an und für sich nicht so sehr der Fan von Biografien und habe bisher auch erst eine einzige gelesen. Aber diese Geschichte über das Familienleben und den Bildungsweg von Tara greift dabei viele unterschiedliche gesellschaftliche Themen auf und bereitet diese auf so selbstverständliche und objektive Weise auf, dass jeder sich sein eigenes Bild dazu machen kann.

Tara ist das jüngste von sieben Kinder und lebt unter Bedingungen, die sich wohl die meisten von uns gar nicht vorstellen können. Ihr Vater ist ein fundamentalistischer Mormone, der sich ständig vom Staat verfolgt fühlt und daher seine Familie am Buck Peak isoliert. Was unter anderem bedeutet: Tara hat keine Geburtsurkunde und kennt ihr genaues Geburtsdatum nicht, sie besucht keine Schule und muss ab dem 10. Lebensjahr auf dem Schrottplatz schwere und teils lebensgefährliche Arbeiten verrichten. Aber auch ein Arzt oder ein Krankenhaus sind verpönt und werden nicht aufgesucht – Medikamente bedeuten außerdem nach der Ansicht der Eltern Gift für den Körper und werden daher strikt abgelehnt. Alle möglichen Verletzungen, Gehirnerschütterungen, Brandwunden – unabhängig vom Grad und der Schwere – behandelt die Mutter mit ihren selbst hergestellten Tinkturen und Ölen.

Solange ich denken konnte, gab mir Mutter, wenn ich Schmerzen hatte, ob Zahnweh oder von einer Wunde, eine Tinktur aus Lobelie und Helmkraut. Davon waren die Schmerzen nie weggegangen, kein bisschen. Deswegen hatte ich Schmerzen allmählich als notwendig und unantastbar respektiert, ja verehrt.

Tara ist in ihrem Aufwachsen neben der schweren körperlichen Arbeit auch immer wieder mit häuslicher Gewalt konfrontiert – vor allem ihr älterer Bruder Shawn setzt ihr dabei ständig grundlos und zur Machtdemonstration zu und misshandelt sie, ohne dass die Eltern einschreiten. Auch, wenn die Verletzungen noch so schlimm sind, auch wenn die Schmerzen noch so groß sind, ist Tara dabei doch jedes Mal bemüht, eine Entschuldigung für ihren Bruder zu finden und zumindest eine Teilschuld bei sich selbst zu suchen:

Ich stelle mir Fragen, zweifle, ob ich mich klar genug ausgedrückt habe: Was hatte ich geflüstert, was geschrien? Ich komme zu dem Ergebnis, wenn ich anders gebeten hätte, ruhiger gewesen wäre, dann hätte er aufgehört.

Die Mutter bringt den Kinder in einem spärlichen und sporadischen Heimunterricht ein paar grundlegende Kenntnisse wie Lesen und Schreiben bei, doch für den Vater zählen vor allem die handwerklichen Fertigkeiten und das Buch Mormon, er beherrscht mit seinen Regeln das Familienleben und prägt mit seinen Verschwörungstheorien das Weltbild von Tara. Taras Bruder Tyler hat Buck Peak schon vor längerer Zeit verlassen und besucht das College – er ermuntert Tara nun immer wieder, ebenfalls ihr Zuhause zu verlassen und sich ihrer Bildung zu widmen.

Tyler stand auf. „Es gibt noch eine andere Welt, Tara“, sagte er. „Und die sieht total anders aus, wenn Dad dir mal nicht mehr seine Sicht davon ins Ohr flüstert.“

Tara schafft es, sich in Eigenregie so weit fortzubilden, dass sie mit 17 Jahren die Aufnahmeprüfung für die Brigham Young University schafft und damit das erste Mal in ihrem Leben ein Klassenzimmer betritt. Sie ist vor allem fasziniert von den geschichtlichen Themen und hört unter anderem hier vom Kunstgeschichtsprofessor den Begriff des Holocausts und seine Bedeutung. Durch ihre Bildung gelingt es ihr auch, nach und nach eine andere Sichtweise auf die Dinge zu finden und sich allmählich eine eigene Meinung zu den verschiedenen Themen, losgelöst von den prägenden und jahrelang indoktrinierten Worten des Vaters zu bilden.

Ich nehme an, mein Interesse rührte von dem Gefühl der Haltlosigkeit her, das ich hatte, seit ich vom Holocaust und von der Bürgerrechtsbewegung erfahren hatte – seit mir klar geworden war, dass das, was man über die Vergangenheit weiß, darauf beschränkt ist und immer sein wird, was man von anderen erzählt bekommt.

Tara setzt ihre umfassende Ausbildung in Cambridge und Harvard fort und es ist dabei doch immer wieder zu beobachten, wie sich trotz ihres angehäuften Wissens immer mal wieder die prägenden Einflüsse ihrer Kindheit und die vom Vater als Tatsachen dargestellten Punkte impulsiv in den Vordergrund drängen. Das zeigt, wie lange eine derartig penetrante„Gehirnwäsche“ trotz besseren Wissens Auswirkungen zeigen und somit auch das weitere Leben noch unbewusst beeinflussen kann. Mit „Educated“ werden daher der Kraft, die einer umfassenden Bildung innewohnt, und der Nutzen, der daraus gezogen werden kann, wunderbar beschrieben und dargestellt – Bildung bietet uns die Perspektive, das Leben mit eigenen Augen zu sehen und sich nicht auf die Aussagen der anderen verlassen zu müssen.

In dem Raum war kein Frieden, vielleicht war auch nur keiner in mir. Jahrelang waren mein Vater und ich im Streit verkeilt gewesen. Ich dachte, ich hätte es akzeptiert, unsere Beziehung, so wie sie eben war.

Obwohl sie in ihrem Zuhause und durch ihre Familie sowohl viel Tragisches körperlicher Natur als auch Enttäuschungen seelischer Natur erleben musste, sucht sie dennoch immer wieder den Kontakt zu ihnen und kehrt immer wieder auf den Buck Peak zurück. Sei es aus Pflichtgefühl der Familie gegenüber, sei es aus Loyalität. Jedenfalls werden von den Eltern und von einem Teil der Geschwister schließlich alle offensichtlichen Misshandlungen verleugnet und die Vergangenheit wird auf eine ganz andere Art dargestellt. So gelingt es ihr schließlich zu begreifen, dass dieses Pflichtgefühl gegenüber der Familie sehr wohl auch Grenzen hat, dass sie sich sehr wohl für ihr Wohlbefinden und ihre Sicherheit entscheiden darf und das ohne Rechtfertigung und ohne Schuldgefühle. Tara lernt im Laufe ihrer Selbstfindung durch die Aneignung von Wissen, durch die Kraft der Bildung, sich von ihrer Familie abzunabeln und schweren Herzens abzugrenzen. So wird Tara durch die Bildung zu einer selbstbestimmten Frau.

 

Schockierend, bewegend und beeindruckend

Dieses Buch hat mich schon auf seine Weise sehr auf gewühlt, aber auch beeindruckt – es hat mir eine Welt nahegebracht, die ich bisher nicht gekannt habe, ja, von der ich nicht einmal wusste,

dass sie in dieser Form überhaupt existiert, dass tatsächlich heutzutage Menschen unter solchen Bedingungen leben. Kinder, ja kleine Kinder, die auf einem Schrottplatz schwerste und gefährliche Arbeiten verrichten müssen, weder eine Schule besuchen noch zu Hause unterrichtet werden, Kinder, die brutaler häuslicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sind und vor allem Kinder, die keine Geburtsurkunde haben, die eigentlich offiziell gar nicht existieren? Wie ist das in der heutigen Zeit möglich, ohne dass hier das Umfeld eingreift, dass irgendwelche Ämter oder Behörden aktiv werden, dass diese Kinder geschützt werden?

Es hat mich aber auch beeindruckt, wie es Menschen aus schwierigen Situationen – ich denke, dieser Ausdruck ist bei Taras Kindheit mehr als gerechtfertigt – schaffen, so Großartiges zu leisten und dennoch damit nicht zu prahlen „Ich wollte nicht die Rolle eines Horatio Alger in einer tränenreichen Hommage an den amerikanischen Traum. Ich wollte, dass mein Leben sinnvoll war,…“. Tara berichtet über ihr Leben objektiv – sie jammert nicht und lamentiert nicht darüber, welch schweren Start sie doch ins Leben hatte, und hebt andererseits auch ihre eigenen Leistungen nicht gesondert hervor.

Ich habe jedenfalls durch diese Biografie Einblicke in ein Leben bekommen, das mir total fremd ist, das sich so sehr von meinem unterscheidet. Es ist daher für mich keine Lektüre, die zur Entspannung und zum Abschalten geeignet ist, kein Buch, das als leichte Lektüre bezeichnet werden kann und somit auch keine Bettlektüre, denn diese Gedanken würden mich sicherlich dann in der Nacht immer wieder beschäftigen. Es ist aber sehr wohl ein interessantes und lehrreiches Buch, es gibt viele Passagen in dem Buch, die ich gerne markiert und für immer aufgenommen hätte und es ist mir daher auch bei der Auswahl der Textproben und der Beschreibung der Szenen die Entscheidung total schwer gefallen, aber ich hoffe dennoch, ich habe euch einen kleinen aussagekräftigen Eindruck vermitteln können.

So, jetzt freue ich mich schon auf das Weiterlesen und zwar darauf, dass ich deinen Kommentar lesen darf: Kennst du dieses Buch oder könntest du dir vorstellen, diese Biografie von Tara zu lesen? Interessierst du dich generell für die Lebensgeschichte von Menschen? Und last but not least: in welches Buch steckst du zurzeit deine Nase – was liest du gerade?
Ich bin total gespannt auf deine Meinung.