Gedankenplauderei

Die geschminkte Wahrheit

Wolfgangsee im Winter

Unlängst hatte ich eine längere Zugfahrt vor mir – da gehört für mich Lesestoff unbedingt dazu. Dieses Mal war es unter anderem einmal ein Magazin, zu dem ich gegriffen habe. Diese Hochglanzseiten leben meist vor allem von den Bildern und so bin ich hier über Abbildungen zum perfekten Nude-Look gestolpert (sofern das beim Lesen der richtige Ausdruck ist??). Jedenfalls wurde hier dieser Look, der praktisch ein optimiertes Aussehen wie ungeschminkt darstellen soll, mit den erforderlichen Materialien und Techniken abgebildet. Dieser Look lebt vor allem von den Naturtönen, also von Farben wie Beige und Bronze und sehr dezenten und matten quasi „hautfarbenen“ Lippenstiften und Nagellacken.

 

Aussehen

Wenn ich mich nun so umschaue, dann erblicke ich alle Varianten – es gibt die Menschen, die diesen beschriebenen Nude-Look tragen, es gibt Personen mit auffälligem Make-up und es gibt andere, die dem sogenannten #ungeschminkt folgen. Bei „Ungeschminkt“ wird komplett auf Make-up verzichtet, kein Concealer, kein Mascara, nichts wird im Gesicht aufgetragen, einfach Natur pur. Zu diesem Hashtag gibt es in Instagram bereits über 100.000 Posts – verschiedenste Menschen, darunter auch Prominente, Schauspieler, Sänger, Models stellen hier ein Foto von sich komplett ohne Schminke, ohne Abdeckungen oder ähnliches und natürlich auch ohne Filter und Bearbeitung ein. Dazu finden sich dann Kommentare wie „Ohne Schminke fühle ich mich frischer“, „Ich mag das Verhübschen mit Farbe nicht“, „Ich fühle mich besser mit meinen Flecken und Falten“. Dieses Motto soll dabei eine Gegenbewegung zu dem Schönheitswahn sein, der vor allem in den sozialen Medien vorherrscht, und die Natürlichkeit wieder mehr in den Mittelpunkt stellen.

 

Wolfgangsee im Winter

 

So unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich gehen sie auch mit ihrem Aussehen um – manche fühlen sich ohne Schminke, also „oben ohne“ nackt und unwohl, sie wollen eventuelle Unreinheiten verdecken, sie wollen Augenringe wegschminken, oder sie wollen die Augen größer und die Lippen voller erscheinen lassen, andere wiederum fühlen sich geschminkt wie maskiert und überkandidelt, so nach dem Motto „Bloß kein Kleister ins Gesicht“. Ob mit mehr Make-up, mit weniger Make-up oder überhaupt ohne Make-up, ich denke, alles sollte doch erlaubt sein, solange sich die Person damit wohlfühlt und identifizieren kann und vor allem solange kein Zwang und Druck in irgendeine Richtung entsteht.

Manche schminken sich stundenlang. Manche lächeln ein paar Sekunden und sind schöner. (Autor unbekannt)

Neben dem Make-up spielt auch die Kleidung einen wesentlichen Teil für das Aussehen – Kleidung kann uns jünger oder älter, schlanker oder dicker aussehen lassen. Wir können mit Kleidung ein Statement setzen, mit ihr unsere Einstellung verdeutlichen oder uns ganz anders erscheinen lassen. Im Fasching ist natürlich die Hochzeit der Verkleidungen, irgendwo habe ich dazu mal gelesen, dass Kostüme etwas über die Sehnsüchte des Trägers zeigen, die im Alltag nicht ausgelebt werden können, dass sogar über die Verkleidung auf den Charakter dieses Menschen geschlossen werden kann. Wenn ich da jetzt mal so an die gängigen Faschingskostüme denke, da will ich mir wohl gar nicht die Sehnsüchte, die dahinterstecken können, überlegen.

Aber hier geht es um etwas Anderes: so kann etwa lockere Kleidung über zu viel verspeiste Weihnachtskekse hinwegtäuschen, so können High-Heels ellenlange Beine zaubern, ein Tuch kann Bad-Hair „wegschminken“ – Kleidung kann somit zu einem wesentlichen Teil zum Wohlbefinden beitragen.

 

Leben

Doch nicht nur beim Aussehen gibt es Schminke: ein Bekannter hat vor kurzem seinen Arbeitsplatz gewechselt – er hat sich bei einer Firma, die mehrere hundert Kilometer entfernt ist, beworben und mit dem Arbeitsplatzwechsel hat er daher auch einen Wohnortwechsel vollzogen. Unlängst haben wir ihn schließlich bei einer Feier wiedergetroffen. Er hat alle mit seinen Schilderungen von seinem tollen Berufsleben beeindruckt; im neuen Job findet er die richtige Erfüllung, er genießt die Anerkennung von seinen Vorgesetzten und wird total respektiert und geachtet. Die Anwesenden waren begeistert von seiner tollen Entscheidung, von seinem neuen Job. In einer ruhigen Stunde hat er mir dann berichtet, wie schwierig die Zusammenarbeit mit den Kollegen ist, wie wenig Akzeptanz und Integration er doch findet. Ja, mit seinen Vorgesetzten klappe es wunderbar, aber zu seinen unmittelbaren Kollegen finde er keinen Zugang.

Was ist von diesen Aussagen zu halten – wie ist er hier vorgegangen? Der Bekannte hat in seinem Bericht nur die wahren Tatsachen beschrieben, den tollen Job, die tollen Vorgesetzten geschildert und die negativen Seiten in der Allgemeinheit einfach unter den Tisch fallen lassen. Durch die positive Darstellung wirkt diese auf die anderen wie ein Traumberuf, die anderen Aspekte sind davon überlagert oder auch „geschminkt“. Wie durch die kosmetischen Produkte das Aussehen verbessert und optimiert und allfällige Mängel überdeckt werden sollen, so sind hier die negativen Seiten des Jobs zwar vorhanden, aber für die anderen nicht sichtbar.

 

Wolfgangsee im Winter

 

Nach dem Motto „Pimp up my life“ wird vielfach auch in anderen Bereichen nur die optimale Version des Lebens dargestellt. So wird von den Nachbarn über deren traumhaften Urlaub berichtet, da gibt es Schilderungen vom wunderbar feinen Sandstrand, der schließlich in das kristallblaue klare Wasser übergeht, da wird von köstlichen Speisen in den verschiedensten Varianten berichtet, die herrlichen Vorspeisen, die große Anzahl an Desserts – sie haben diese herrliche Auszeit vom alltäglichen Leben genossen.

Als wir dann genauer hinschauen, stellt sich heraus, dass der Strand und das Wasser wirklich wunderbar waren, aber die Menschenmassen ihn so überfüllten, dass an ein friedliches Genießen nicht zu denken war. Beim Essen kommt dann zum Vorschein, dass zwar eine Vielzahl an leckeren Speisen angeboten wurde, aber durch den Andrang am Buffet, durch die vielen Menschen, die hier anscheinend fast vor dem Verhungern waren, an ein angenehmes Speisen nicht zu denken war. Hier kommen wir wieder zu dem gleichen Ergebnis, es wurden nur Wahrheiten erzählt, aber dabei die negativen Seiten bewusst weggelassen, sodass durch die „geschminkte“ Darstellung ein perfekter Eindruck entsteht.

 

Wolfgangsee im Winter

 

Manchmal ist die ungeschminkte Wahrheit gar nicht interessant, manchmal wird von Menschen gerne alles in ein rosarotes Licht gehüllt und die Tatsachen werden mit einem verklärten Blick betrachtet. Dies trifft vor allem am Beginn einer Beziehung oder auch dann in Beziehungen selbst noch zu – da werden ungeliebte Eigenheiten des anderen mit einem Deckmantel verhüllt, wie etwa wenn die Kompromisse immer auf Kosten eines Partners gehen.

Wenn hier jemand gerne ein Musical besucht, der Partner dies aber rigoros ablehnt, und dieser dann selbst immer darauf verzichtet, indem er dies mit positiven Worte begründet „So bleibt mehr Zeit und Geld für uns“. Oder wenn sich zwei Menschen im Laufe der Jahre immer weiter voneinander entfernt haben und so unterschiedliche Interessen aber auch unterschiedliche Ansichten vertreten und dies aber mit den Worten „Es geht mir so gut, denn ich habe jemanden, der zu mir gehört. Ich könnte kein Single sein“ in gnädiges Licht tauchen, dann wird eine Beziehung idealisiert, obwohl dies mit einer wirklich glücklichen Beziehung nichts mehr zu tun hat.

 

Auswirkung von geschminkter Wahrheit

Die „geschminkte“ Wahrheit dient wie etwa bei unserem Bekannten den Menschen dazu, sich selbst etwas zu bestätigen. Sie suchen nach Argumenten, nach Tatsachen, die ihre Entscheidung, ihre Handlung als logisch, als sinnvoll, als das einzig Richtige darstellen. Sie standen vor einer Wahl und wollen sich nicht eingestehen, dass sie eventuell falsch gehandelt haben. Dies kommt für sie überhaupt nicht Betracht und daher müssen sie ihre Entscheidung mit wahren Aussagen bestärken und Gegenteiliges wird nicht akzeptiert oder gar nicht erst erwähnt. Dies könnte man vielleicht auch als „schönreden“ bezeichnen – solange etwas positiv beschreiben, bis alles Negative aus den Überlegungen verschwindet.

Die „Schminke“ kann auch als eine Art von Schutzwall gesehen werden, nicht jeder ist gewillt, sich total der Öffentlichkeit zu präsentieren, alle sogenannten Mängel und Makel zur Schau zu stellen. So wird hier eine Absicherung aufgebaut – wir geben nur so viel preis, wie es uns richtig erscheint. Wir zeigen nur bestimmte Seiten von uns und halten den Rest bedeckt. Gerade heutzutage wird von den sozialen Medien gleich jede Ungereimtheit aufgegriffen, aufgebauscht oft bis zum Shit-Storm zu ursächlichen Kleinigkeiten, die vielleicht auch ohne tieferen Hintergrund entstanden sind. Hier werden dann Menschen meist von unbekannten oder gar anonymen Personen schlimm beschimpft und abgewertet, von Personen, die eine tatsächliche Situation aus der Ferne gar nicht beurteilen können, von Personen, die sich durch die Abwertungen von anderen selbst bestärkt fühlen. Aber wenn wir dies auch nicht in diesem großen Umfeld betrachten, hilft ein bisschen „Schminke“ doch manchmal wirklich gut, vor allem wenn es um sehr persönliche Angelegenheiten geht. Hier machen sich die Menschen ansonsten besonders angreifbar und sind leicht zu verletzen.

 

Wolfgangsee im Winter

 

Ich denke, es muss jeder entscheiden, wie viel er von sich preisgibt, womit er sich wohlfühlt, was er lieber mit „Schminke“ bedeckt hält und was er ungeschminkt nach außen trägt. Dabei ist es einfach wichtig, selbst den Überblick zu behalten, selbst noch zwischen Tatsachen und geschminkter Wahrheit unterscheiden zu können, denn die Grenze zum Selbstbetrug ist hier sicher sehr marginal – was ein Mensch glauben möchte, das hält der dann schließlich meist auch für wahr.

Zuhause bin ich dort, wo ich mich sowohl geschminkt als auch ungeschminkt wohl und aufgenommen fühle, wo ich nicht trotz meiner Makel, sondern auch wegen meiner Makel geliebt werde.

 

Jetzt bin natürlich total neugierig, wie ihr das seht:

Schminkt ihr euch regelmäßig oder gehört ihr eher dem Typ der Ungeschminkten an? Wie seht ihr das Überdecken von unangenehmen Teilen der Wahrheit, wenn negative Seiten negiert werden, wenn nur das Positive hervorgehoben wird? Ist das Schminken der Wahrheit abzulehnen oder brauchen wir doch alle zu unserem Selbstschutz etwas Schminke?